Das BIP – ein Massstab aus der Vergangenheit?

Muss ein Brutto-Zukunft- oder ein variables Brutto-Inland-Produkt her?

Die russische Wirtschaft ist im Jahr 2023 gewachsen. Diese Schlagzeile hat mich einmal mehr besorgt und ermuntert, über die Messung von Wirtschaftsleistung nachzudenken. Wie schon vor Kurzem in meinem Beitrag «Der Preis von externalisierten Kosten». Auch dort ging es darum, was wir messen und bewerten. Was ist wünschenswert – aus nachhaltiger Perspektive, also wirtschaftlich, ökologisch und sozial.

Zurück zur Schlagzeile über die russische Wirtschaft: Kann eine Kriegswirtschaft im Sinne einer Nation sein? Oder nur im Kopf von Irren aus dem letzten Jahrtausend? Auch Xi Jinping verfolgt eine Grand Strategy, um seine Nation mit allen Mitteln wieder zu einer führenden Weltmacht zu machen. Wohl cleverer als sein russischer Kollege, aber dennoch zu einem hohen Preis. Für die Bevölkerung, die Umwelt und Massstäbe von internationaler Kooperation und Partnerschaft.

Auch das WEF, welches letzte Woche wieder in Davos stattfand, lenkt den Blick auf grössere Zusammenhänge auf der Welt. Selbst das WEF steht trotz aller Kritik nicht mehr nur im Zeichen von grenzenlosem Wachstum, sondern zunehmend für ein nachhaltigeres und integrativeres Wachstumsmodell.

Der Club of Rome schlägt seit 1972 vor und Alarm, dass eine Transformation hin zu nachhaltigeren Wirtschaftssystemen notwendig ist, um die Herausforderungen der Menschheit und des Planeten zu bewältigen.

Dieser Beitrag soll kein politischer sein, es geht mir mehr um einen differenzierten Blick auf die Messung von Wirtschaftsleistung. Befinden wir uns auf geopolitischen Irrwegen, die die Sicht auf drängende Weichenstellungen verstellen?

Wollen wir Geld oder Wert messen?

Der Unterschied zwischen Geld und Wert kann sowohl aus wirtschaftlicher als auch aus philosophischer Sicht betrachtet werden.

Wirtschaftliche Sicht:

Geld: In der Wirtschaft ist Geld ein Tauschmittel, das universell akzeptiert wird, um Güter und Dienstleistungen zu kaufen. Es hat einen nominellen Wert, der von Regierungen festgelegt wird. Geld erleichtert den Handel, indem es die Notwendigkeit des direkten Tausches (Ware gegen Ware) umgeht und als Masseinheit für den Wert dient. Geld hat auch eine Funktion als Wertaufbewahrungsmittel und als Recheneinheit.

Wert: Wirtschaftlich gesehen bezieht sich der Wert auf die Bedeutung, die einem Produkt oder einer Dienstleistung aufgrund ihrer Nützlichkeit oder Knappheit beigemessen wird. Der Wert wird oft durch den Preis ausgedrückt, den Käufer bereit sind zu zahlen. Im Gegensatz zum nominalen Geldwert ist der Wert eines Gutes oder einer Dienstleistung subjektiv und variiert je nach individuellen Bedürfnissen, Präferenzen und der verfügbaren Menge.

Philosophische Sicht:

Geld: Philosophisch kann Geld als Symbol für Macht, Erfolg oder als Mittel zur Erreichung bestimmter Lebensziele gesehen werden. Es wird oft diskutiert, inwieweit Geld Glück oder Zufriedenheit bringen kann, und ob es als Selbstzweck oder als Mittel zu einem Zweck betrachtet werden sollte.

Wert: Philosophisch ist der Wert ein breiteres Konzept, das ethische, moralische, ästhetische und existenzielle Dimensionen umfasst. Werte sind oft Grundsätze oder Überzeugungen, die das menschliche Verhalten leiten und die Bedeutung oder Wichtigkeit von Dingen, Ideen oder Handlungen bestimmen. Sie sind nicht immer quantifizierbar und umfassen Konzepte wie Gerechtigkeit, Schönheit, Wahrheit und Güte.

In beiden Perspektiven unterscheiden sich Geld und Wert grundlegend: Geld ist ein konkretes, quantifizierbares Mittel mit festgelegtem nominellem Wert, während der Wert ein subjektives, oft qualitatives Mass ist, das von persönlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Überzeugungen und Bedürfnissen abhängt.

Die relative Bewertung von aktuellem und zukünftigem Wert

Eine relative Bewertung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sowohl aus aktueller Sicht als auch unter Berücksichtigung zukünftig eintretender Konsequenzen macht Sinn. Dieser Ansatz erlaubt eine umfassendere Beurteilung der wirtschaftlichen Leistung und hilft dabei, langfristige Trends und Nachhaltigkeitsaspekte zu integrieren.

Mögliche Gründe, weshalb eine solche Bewertung sinnvoll ist, sind:

  1. Aktuelle Wirtschaftsleistung: Das BIP misst die aktuelle wirtschaftliche Aktivität und gibt Aufschluss über den gegenwärtigen Wohlstand eines Landes. Es ist ein wichtiges Instrument zur Beurteilung der kurzfristigen ökonomischen Leistungsfähigkeit und zur Planung der Wirtschaftspolitik.
  2. Langfristige Nachhaltigkeit: Die Berücksichtigung zukünftiger Konsequenzen ermöglicht eine Einschätzung der Nachhaltigkeit des aktuellen Wirtschaftswachstums. Beispielsweise kann ein hohes BIP-Wachstum, das auf Kosten der Umwelt oder der Gesundheit der Bevölkerung erzielt wird, langfristig nicht nachhaltig sein.
  3. Soziale und ökologische Aspekte: Eine umfassendere Bewertung des BIP, die soziale und ökologische Faktoren einbezieht, kann dazu beitragen, die wahren Kosten und Nutzen des Wirtschaftswachstums besser zu verstehen. Dies ist wichtig, um sicherzustellen, dass das Wachstum das Wohlergehen der Gesellschaft insgesamt verbessert.
  4. Vorausschauende Politikgestaltung: Durch die Einbeziehung zukünftiger Konsequenzen in die Bewertung des BIP können Politiker und Entscheidungsträger besser informierte Entscheidungen treffen. Sie können Strategien entwickeln, die kurzfristige wirtschaftliche Ziele mit langfristiger Nachhaltigkeit und Wohlstand vereinbaren.
  5. Bewusstsein für Generationengerechtigkeit: Eine solche Bewertung kann auch dazu beitragen, das Bewusstsein für die Bedürfnisse zukünftiger Generationen zu schärfen. Dies ist entscheidend, um sicherzustellen, dass heutige Entwicklungen nicht auf Kosten zukünftiger Generationen gehen.

Insgesamt fördert die relative Bewertung des BIP unter Einbeziehung gegenwärtiger und zukünftiger Perspektiven ein ausgewogeneres Verständnis von Wirtschaftswachstum, das über die rein ökonomischen Indikatoren hinausgeht und soziale, ökologische und generationenübergreifende Aspekte miteinbezieht.

Das Netto-Inland-Produkt

Bei der Betrachtung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit sollten bestimmte Kosten abgezogen werden, um ein genaueres Bild von der wahren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und dem langfristigen Wohlstand eines Landes zu erhalten.

Folgende Kosten könnten abgezogen werden:

  1. Umweltschäden: Dazu gehören Kosten, die durch Luft- und Wasserverschmutzung, Bodenerosion, Entwaldung, Verlust der Biodiversität und andere Formen der Umweltdegradation entstehen. Diese Schäden beeinträchtigen langfristig die Lebensqualität und die Ressourcenbasis, auf der die Wirtschaft aufbaut.
  2. Ressourcenabbau: Die Kosten des Abbaus natürlicher Ressourcen über ihre Regenerationsrate hinaus sollten berücksichtigt werden. Dies umfasst den Abbau von fossilen Brennstoffen, Mineralien und anderen nicht erneuerbaren Ressourcen, die nicht nachhaltig genutzt werden.
  3. Gesundheitskosten: Gesundheitliche Folgekosten durch Umweltverschmutzung und andere durch wirtschaftliche Aktivitäten verursachte Probleme. Dazu gehören beispielsweise Ausgaben für die Behandlung von Krankheiten, die durch schlechte Luftqualität oder kontaminiertes Wasser verursacht werden.
  4. Soziale Kosten: Dies umfasst Kosten, die durch soziale Probleme wie Armut, Ungleichheit und mangelnde Bildungschancen entstehen. Obwohl diese Kosten nicht immer direkt quantifizierbar sind, haben sie langfristige Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Stabilität.
  5. Kosten für Klimawandel: Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels, einschliesslich extremer Wetterereignisse, Anpassung an klimabedingte Veränderungen und Massnahmen zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen.
  6. Kosten für Infrastrukturinstandhaltung und -ersatz: Die Instandhaltung und der Ersatz von Infrastruktur, die durch Übernutzung oder Vernachlässigung verschlissen ist, können erhebliche Kosten verursachen.

Durch die Berücksichtigung dieser Kosten kann das BIP zu einem umfassenderen Mass für nachhaltiges Wirtschaftswachstum werden. Es ermöglicht eine realistischere Einschätzung, ob das Wachstum zu Lasten der Umwelt, der Gesundheit der Bevölkerung oder zukünftiger Generationen erfolgt.

Ein BIP mit Ausschlusskriterien?

Wenn Produkte und Dienstleistungen unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeit aus dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausgeschlossen werden müssten, würde dies solche umfassen, die signifikante negative Auswirkungen auf Umwelt, Gesellschaft und künftige Generationen haben.

Einige Beispiele dafür könnten sein:

Umweltschädliche Industrieprodukte:

  • Produkte, die bei ihrer Herstellung, Nutzung oder Entsorgung erhebliche Umweltverschmutzung verursachen, wie einige Kunststoffe oder Pestizide.
  • Produkte, die aus nicht nachhaltiger Entwaldung oder dem Abbau anderer natürlicher Ressourcen stammen.

Energiewirtschaft:

  • Strom aus fossilen Brennstoffen wie Kohle, Öl und Erdgas, die erhebliche Treibhausgasemissionen verursachen.
  • Energieintensive Prozesse, die ineffizient sind und eine grosse Menge an Ressourcen verbrauchen.

Transport:

  • Fahrzeuge und Transportmittel, die auf fossilen Brennstoffen basieren und hohe Emissionen verursachen.
  • Infrastrukturen und Dienstleistungen, die den Autoverkehr fördern und alternative, umweltfreundlichere Transportmittel vernachlässigen.

Landwirtschaft:

  • Intensive Landwirtschaftspraktiken, die Umweltverschmutzung verursachen, wie übermässiger Einsatz von Chemikalien und Düngemitteln.
  • Monokultur und andere Praktiken, die zur Bodenerosion und zum Verlust der Biodiversität beitragen.

Baugewerbe:

  • Bauvorhaben, die umweltzerstörerische Materialien verwenden oder zu einer erheblichen Zerstörung von Ökosystemen führen.
  • Grosse Infrastrukturprojekte, die ohne angemessene Berücksichtigung der ökologischen und sozialen Auswirkungen durchgeführt werden.

Konsumgüter:

  • Produkte mit kurzer Lebensdauer, die nicht recycelbar sind und zum Problem des Elektroschrotts beitragen.
  • Luxusgüter, deren Produktion und Konsum exzessive Ressourcen verbrauchen.

Die Idee hinter dem Ausschluss dieser Produkte und Dienstleistungen ist es, ein nachhaltigeres Wirtschaftsmodell zu fördern, das die langfristigen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesellschaft berücksichtigt. Es geht darum, einen Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft zu fördern, in der Ressourcen effizient genutzt und regeneriert werden, sowie eine Reduzierung der Abhängigkeit von nicht erneuerbaren und schädlichen Ressourcen.

Wie wäre es mit einem Discounted Cash Flow bzw. Discounted Value für das BIP?

Wie beim DCF-Ansatz bei Immobilien?

Die Anwendung eines Discounted Cash Flow (DCF) Ansatzes auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP), ähnlich wie es bei der Bewertung von Immobilien praktiziert wird, würde bedeuten, zukünftige Kosten und Nutzen, die mit der heutigen wirtschaftlichen Aktivität verbunden sind, auf ihren heutigen Wert abzuzinsen. Dies würde eine Perspektive bieten, um die langfristigen Auswirkungen heutiger wirtschaftlicher Entscheidungen zu bewerten.

Folgende Aspekte müssten bedacht werden:

  1. Diskontierung zukünftiger Umweltkosten: Zukünftige Kosten aufgrund von Umweltverschmutzung, Klimawandel und Ressourcenabbau könnten abgeschätzt und auf den heutigen Wert abgezinst werden. Dies würde die langfristigen ökologischen Kosten der aktuellen Wirtschaftsaktivität hervorheben.
  2. Berücksichtigung von Gesundheits- und Sozialkosten: Zukünftige Gesundheits- und Sozialkosten, die durch aktuelle wirtschaftliche Aktivitäten verursacht werden, wie z.B. durch Luftverschmutzung oder Arbeitsplatzunsicherheit, könnten ebenfalls abgezinst und in die Berechnung einbezogen werden.
  3. Investitionen in nachhaltige Entwicklung: Zukünftiger Nutzen aus heutigen Investitionen in nachhaltige Technologien und Infrastrukturen könnte ebenfalls abgezinst werden. Dies würde die langfristigen Vorteile solcher Investitionen betonen.
  4. Wertverlust von natürlichen Ressourcen: Der zukünftige Wertverlust aufgrund der heutigen Ausbeutung natürlicher Ressourcen könnte ebenfalls berücksichtigt werden, um die Notwendigkeit einer nachhaltigeren Ressourcennutzung zu unterstreichen.
  5. Zeitpräferenz und Diskontrate: Ein Schlüsselelement des DCF-Ansatzes ist die Wahl der Diskontrate. Eine niedrigere Diskontrate würde grösseres Gewicht auf zukünftige Kosten und Nutzen legen, während eine höhere Diskontrate den Fokus auf die Gegenwart legt.

Ein solcher Ansatz würde helfen, ein vollständigeres Bild der wirtschaftlichen Aktivität zu zeichnen, indem er die langfristigen Auswirkungen und Kosten berücksichtigt, die im traditionellen BIP oft übersehen werden. Es würde auch die Dringlichkeit von Investitionen in nachhaltige Praktiken unterstreichen und könnte als Werkzeug für politische Entscheidungsträger dienen, um die langfristigen Folgen ihrer Entscheidungen besser zu verstehen und zu steuern. Allerdings wäre die genaue Umsetzung komplex, da sie genaue Schätzungen der zukünftigen Kosten und Nutzen sowie eine angemessene Wahl der Diskontrate erfordern würde.

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